Clearing in der Jugendhilfe – Orientierungshilfe bei Krisen und Kindeswohlfragen

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Kategorien: Eltern & Kind

Wenn Familien in eine akute Krise geraten oder das Kindeswohl infrage steht, kann ein sogenanntes Clearingverfahren ein wertvolles Instrument sein. In der Jugendhilfe dient Clearing dazu, die Lebenslage einer Familie systematisch und mehrdimensional zu erfassen, um gemeinsam mit allen Beteiligten tragfähige Perspektiven zu entwickeln und dabei sowohl Risiken als auch Chancen im Familiensystem zu erkennen.

Doch was genau ist ein sozialpädagogisches Clearing, wann wird es durchgeführt, und wie unterscheidet es sich von Hilfen zur Erziehung? Dieser Beitrag gibt einen umfassenden Überblick für Eltern, junge Menschen und Fachkräfte. Er beleuchtet Inhalte, Abläufe und Herausforderungen des Clearingprozesses und zeigt auf, wie dieser dabei helfen kann, nachhaltige Unterstützungsstrukturen aufzubauen.

Was bedeutet Clearing in der Jugendhilfe?

Der Begriff „Clearing“ stammt vom englischen Wort für „Klärung“ ab. In der Kinder- und Jugendhilfe beschreibt er einen strukturierten, zeitlich begrenzten Prozess der Situationsanalyse. Dabei wird die familiäre Lebenssituation umfassend erfasst, analysiert und bewertet – auf fachlicher, emotionaler und systemischer Ebene.
Im Zentrum stehen Fragen wie:

  • Welche Belastungen und Überforderungen bestehen aktuell?

  • Welche Ressourcen, Potenziale und Schutzfaktoren sind vorhanden?

  • Besteht eine Kindeswohlgefährdung?

  • Wie ist die Erziehungsfähigkeit der Sorgeberechtigten einzuschätzen?

  • Welche Unterstützungsangebote sind geeignet und notwendig?

  • Sind Schutzmaßnahmen notwendig?

Clearing ist somit mehr als eine reine Diagnostik: Es schafft Raum für Entwicklung, fördert Reflexion und sensibilisiert für Bedarfe. Ziel ist es, eine fundierte Grundlage für weitere Entscheidungen im Hilfeplanverfahren oder familiengerichtlichen Verfahren zu schaffen, ohne vorschnelle Bewertungen vorzunehmen.

Anlässe für ein Clearingverfahren

Ein Clearing kann durch das Jugendamt initiiert werden, wenn die Lage einer Familie unklar oder besorgniserregend erscheint. Typische Anlässe sind:

  • Hinweise auf Kindeswohlgefährdung (z. B. Vernachlässigung, Gewalt, psychische Belastungen)

  • unsichere Erziehungssituation, z. B. nach Trennung, bei Alleinerziehenden oder sehr jungen Eltern
  • mehrfache Problemlagen (Armut, Sucht, psychische Erkrankung, Wohnungslosigkeit, Isolation)
  • unklare Perspektiven im Hinblick auf den Verbleib des Kindes im Elternhaus
  • Vorbereitung einer Hilfemaßnahme, familiengerichtlichen Entscheidung oder einer Fremdunterbringung

Clearing ist besonders dann angezeigt, wenn unterschiedliche Sichtweisen und widersprüchliche Einschätzungen vorliegen. Dabei geht es nicht um Kontrolle, sondern um eine ganzheitliche Einschätzung der familiären Lage auf Augenhöhe mit allen Beteiligten.

Formen des Clearings

Clearingverfahren werden in unterschiedlichen Settings durchgeführt. Man unterscheidet im Wesentlichen zwischen:

Ablauf eines Clearingverfahrens

Ein Clearingprozess ist in mehrere Phasen gegliedert und folgt einem transparenten, strukturierten Ablauf:

  • Auftragsklärung mit dem Jugendamt, ggf. in einem Hilfeplangespräch. Festlegung der Fragestellungen und Ziele.
  • Beziehungsaufbau zur Familie, Erläuterung von Ziel und Methode. Aufbau von Vertrauen ist entscheidend für valide Ergebnisse.
  • Alltagsbeobachtungen (z. B. im Haushalt, bei Schulaufgaben, Mahlzeiten, Freizeitgestaltung).
  • Einzel- und Familiengespräche mit Eltern, Kindern, ggf. weiteren Bezugspersonen. Einbezug von Biografiearbeit und ressourcenorientierten Ansätzen.
  • Ressourcen- und Belastungsanalyse mit fachlichen Instrumenten (z. B. Familienbrett, Skalen, Beobachtungsbögen).
  • Netzwerkarbeit, Einbindung von Schule, Kita, Ärzt:innen, Beratungsstellen etc. Ermöglicht eine multiprofessionelle Sicht.
  • Auswertung mit Rückmeldung an die Familie und Formulierung fachlicher Empfehlungen.
  • Abschlussgespräch mit Jugendamt und Familie, Dokumentation und Übergabe an den Helferkreis.

Inhaltliche Schwerpunkte: Was wird betrachtet?

Ein Clearing beleuchtet die Familiensituation auf mehreren Ebenen:

  • Erziehungskompetenz und Bindungsverhalten, z. B. Feinzeichen kindlicher Bedürfnisse, Reaktionen der Eltern
  • psychosoziale Belastungen (z. B. Armut, Krankheit, Sucht, Isolation, Traumata)
  • kindliche Entwicklung in den Bereichen Sprache, Motorik, Emotionalität, Sozialverhalten
  • Alltagsbewältigung (Haushaltsstruktur, Tagesablauf, Versorgungssicherheit, Hygiene)
  • Kommunikation und Konfliktverhalten innerhalb der Familie, inklusive Gewaltmuster
  • Unterstützungsnetzwerke: Gibt es Familie, Nachbarn, Freunde, Institutionen? Wie werden diese genutzt?

Die Fachkräfte verfolgen dabei eine systemische Perspektive: Sie betrachten Wechselwirkungen, Dynamiken und Beziehungen im sozialen Umfeld. Auch das subjektive Erleben der Familienmitglieder wird einbezogen, um blinde Flecken oder transgenerationale Muster sichtbar zu machen.

Was ist wichtig für ein gelungenes Clearing?

Ein qualifiziertes Clearing basiert auf fachlichen Standards und einer klaren Haltung:

  • Transparenz: Die Familie wird von Anfang an in Ziele und Abläufe einbezogen. Nur so entsteht Mitwirkung.

  • Partizipation: Alle Mitglieder, auch Kinder und Jugendliche, werden altersgerecht beteiligt und gehört.

  • Ressourcenorientierung: Es geht nicht um Fehler, sondern um Entwicklungschancen und das Aktivieren eigener Stärken.

  • Alltagsnähe: Beobachtungen finden im echten Leben statt, nicht nur im Gespräch oder unter Laborbedingungen.

  • Interdisziplinarität: Ergebnisse fließen in Zusammenarbeit mit Jugendamt, Schule, Psychologie, medizinischen Fachkräften u. a.

  • Methodenvielfalt: Visualisierungen, Skalen, Biografiearbeit, Videoanalysen oder spielerische Settings kommen je nach Bedarf zum Einsatz.

Nur wenn das Clearing auf einer belastbaren Beziehung und fachlicher Neugier basiert, entstehen veränderungsfördernde Impulse.

Was passiert nach dem Clearing?

Ein Clearing schließt mit einer schriftlichen Auswertung und konkreten Empfehlungen. Diese können sein:

  • Einleitung oder Fortführung einer Hilfemaßnahme (z. B. SPFH, Erziehungsbeistand, flexible Hilfen)
  • Vermittlung von Therapieangeboten (Eltern, Kind, Familie; ggf. auch Sucht- oder Traumaangebote)
  • Antrag auf ergänzende Pflegschaft, Teilentzug der elterlichen Sorge oder Vormundschaft
  • Einbindung in frühpädagogische oder schulische Förderung (z. B. Vorschulförderung, Schulbegleitung)
  • Kontaktregelungen oder Unterstützung bei Umgangsvereinbarungen, ggf. durch Umgangspflegschaft
  • bei anhaltender Kindeswohlgefährdung: weitere gerichtliche Schritte (z. B. Schutzanordnungen, Unterbringung)
  • keine weiteren Maßnahmen: das Clearing kann natürlich auch damit abschließen, dass keine weiteren Maßnahmen oder Hilfen erforderlich sind

Zudem können Hinweise für den Helferkreis formuliert werden, z. B. welche Haltung, Sprache oder Struktur besonders hilfreich erscheint. Das Clearing liefert damit eine fachlich fundierte Basis für tragfähige und nachhaltige Hilfeentscheidungen.

Fazit: Orientierung schaffen, Entscheidungen stützen

Ein Clearingverfahren ist kein Urteil, sondern eine Einladung zur Reflexion. Es schafft eine belastbare Grundlage für Hilfeplanung, Schutzentscheidungen und Entwicklungsprozesse. Für Familien kann es entlastend wirken, weil es nicht nur Probleme aufzeigt, sondern auch neue Wege sichtbar macht und die Betroffenen in ihrer Lebensrealität ernst nimmt.

Gerade in komplexen Situationen mit vielen Beteiligten schafft das Clearing – ambulant wie stationär – die notwendige Klarheit, um gut informierte, verantwortliche Entscheidungen zu treffen. Und damit letztlich das zu tun, was das Ziel aller Beteiligten ist: das Wohl des Kindes sichern, die Familie stärken und Entwicklung ermöglichen.

Weiterführende Links:

  1. Ambulantes Clearingverfahren – Anwendung und Methoden
    Eine praxisnahe Darstellung, wie ambulante Angebote nach § 27 SGB VIII und § 36 SGB VIII gestaltet werden (planb-saar.de, Fachportal Pädagogik)
  2. Clearing im Kinderschutz (KVJS-PDF)
    Ein vertiefendes PDF zur Systematisierung von Clearingprozessen im Kontext des Kinderschutzes (KVJS)
  3. Clearing im Rahmen der Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen
    Erläuterung der Vorgehensweise und rechtlichen Grundlagen rund um Inobhutnahme und Clearing (BuMF, BAMF)
  4. Systemisches Clearing – Kinder‑ und Jugendhilfe Aachen
    Beispiel einer systemisch orientierten Clearingpraxis mit Fokus auf kindlichen Schutz und Familienharmonie (Systemische Kinder)
  5. Gutachten, Diagnostik & Clearing – Projekt PETRA
    Überblick zur psychologischen Diagnostik im Clearingprozess, inkl. Gutachtenerstellung und familienbezogener Auswertung (projekt-petra.de)
Marco Breitenstein Mediator, Dozent, Verfahrensbeistand
Marco Breitenstein

Marco Breitenstein ist Vormund und Verfahrensbeistand an vielen Amtsgerichten in Hessen und Rheinland-Pfalz. Seine Tätigkeitsschwerpunkte sind die systemisch-lösungsorientierte Arbeit in hochkonflikthaften Familiensystemen und im Umfeld psychischer Erkrankungen oder Beeinträchtigungen.

Als Dozent und Speaker ist Marco Breitenstein vermittelt er bundesweit sein Wissen in den Bereichen Kinderschutz, Prävention und insbesondere seine Expertise in Umgangsangelegenheiten sowie Trennungsbegleitung.